9. August 1957

411 0 0

Johann und Leonid waren pünktlich zur Messe erschienen. Für Leonid war das Knien während der Zeremonie, von der er nichts verstand, anstrengend; Johann fühlte sich hingegen völlig geborgen. Es konnte gar nicht anders als Gottes Wille sein, dass er sich hier für die Befreiung eines zu Unrecht Inhaftierten einsetzte. Mehr Sorgen bereitete ihm, dass der Nachhall von Leonids Worten ihn nicht losließ. Wenn er in der Kirche war, sein Gewand trug und all die vertrauten Gesten sah, war er sich so sicher, dass genau das seine Berufung und seine von Gott vorgesehene Aufgabe war. Doch wenn er nun unter irgendeinem fremden Namen als vorgeblicher Ehemann Aleksandras neben ihr saß, wenn er daran dachte, dass alle, die sie für ein Ehepaar hielten, indirekt auch daran denken konnten, wie sie sich körperlich nahe waren ohne es verwerflich zu finden, stockte ihm der Atem. Johann versuchte erneut, sich zu konzentrieren. Er war schon vielen attraktiven Frauen begegnet, das hatte ihn nie auch nur gereizt. Es musste an etwas anderem liegen. Wie er es gelernt hatte, ging er in Gedanken alle Eigenschaften Aleksandras durch; er nahm auch wahr, dass diese heftiger werdende Leidenschaft für sie erst mit der überstürzten Flucht begonnen hatte. Konnte es sein, dass er einfach nur die ungewohnte Umgebung, das Gefühl des Verfolgt-Seins und die Unsicherheit über die Zukunft kompensierte, indem er Aleksandra zum Orientierungspunkt machte? Sie, die seit seiner Ankunft in Moskau jeden Tag mit ihm verbracht hatte, sich um ihn gekümmert hatte und bei aller Ablehnung von Religion sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen?

Als Leonid ihm auf die Schulter klopfte, schreckte Johann aus seinen Gedanken auf. Der Gottesdienst war zu Ende, die Leute standen auf und gingen. Leonid fragte leise: „Müssen wir noch den Eindruck erwecken, als würden wir mehr beten als die anderen, oder können wir auch endlich aufstehen?“
Johann stand auf, was Leonid als Aufforderung verstand, es ihm gleichzutun. Leonid hatte die Zeremonie mit einer gewissen Neugierde verfolgt, war aber aus den Abläufen nicht schlau geworden. Die fremdartige Sprache und die Handbewegungen des Priesters, der auf dem Altar mit goldenen Geräten hantierte, schienen ihm eine seltsame Form des Exerzierens zu sein. Und wie dort bestand ja vielleicht auch hier der tiefere Sinn darin, die Anwesenden durch die Perfektion des Ablaufes zu bannen: Die Eigenen, um ihr Vertrauen in die Richtigkeit des Systems zu stärken, und die Gegner, um die Unzerstörbarkeit des Apparates symbolisch darzustellen. 
Als Leonid noch bei der Marine war, hatte ihn das am meisten fasziniert: Dieses Ineinandergreifen der einzelnen Abläufe. Der Drill, der dafür sorgte, dass jeder seine Position genau kannte, bei der Übung und im Ernstfall mit dem geringst möglichen Zeitverlust das Richtige tun konnte. Seine Aufgaben als Dolmetscher und im Auftrag des Geheimdienstes beruhte zwar auch auf Professionalität, aber auf einer viel verborgeneren. Man war von Berufs wegen dazu verdammt, allen zu misstrauen und zuerst alles aus eigener Kraft zu versuchen.
Ander Umber kam auf die beiden zu, umarmte zuerst Johann, dann auch Leonid: „Es ist ein Gottesgeschenk, dass ihr hier seid! Wir werden das Frühstück auslassen und gleich hinüber in die Kaserne gehen. Es hat in der Nacht einen Zwischenfall gegeben und ein Dolmetscher ist jetzt wichtiger denn je.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, zog Ander Johann hinter sich in die Sakristei und durch eine weitere Türe in einen gemauerten Gang: „Das ist eine direkte Verbindung zur Kapelle in der Kaserne. So ersparen wir uns die ständigen Kontrollen an der Wache. Ich habe mit meinem Bruder gesprochen, und es ist kein Problem, dass ich euch mitnehme.“
Leonid musterte den Gang, den sie durcheilten. Wenn es gelang, Wladimir in die Kapelle zu bekommen, könnte man durch diesen Gang leicht über die Kirche ins Freie gelangen. Und mit etwas Geschick könnte man in der Menge auf dem Platz vor der Kirche untertauchen, vor allem, weil niemand zwei Priester verdächtigen oder aufhalten würde. Und wenn erst die Verfolgung begann, hätten sie in normaler Kleidung völlig unauffällig zu dem von Aleksandra angesprochenen Haus fahren können. Die Rettung der übrigen Matrosen war Leonid in diesem Augenblick kein besonderes Anliegen. Niemand würde sie hier verletzten oder töten, denn jeder war ein potentieller Informant über die Funktionsweise des U-Boots, das die kolumbianische Regierung so dringend gebrauchen konnte. 
Leonid wandte sich an Johann und sprach ihn auf Deutsch an: „Wir müssen Wladimir dazu bringen, dass er in der Kapelle bei dir dieses Geständnis ablegen will.“ 
Johann antwortete ihm: „Du meinst die Beichte?“ Leonid sagte schnell: „Ja, wie auch immer. Wenn wir dann in der Kapelle sind, werde ich unseren Begleiter außer Gefecht setzen. Dieser Gang wird Wladimir und uns in die Freiheit bringen.“
Johann wollte schon heftig protestieren, weil eine Verletzung oder gar Ermordung Don Anders für ihn unter keinen Umständen tolerierbar war, als dieser ihn schon auf Italienisch ansprach: „Ich verstehe eure Sorge, aber unter den gegenwärtigen Umständen ist etwas Eile geboten.“
Er öffnete mit einem Schlüssel, den er in der linken Talartasche eingesteckt hatte, eine eisenbeschlagene Türe, die in eine kleine Sakristei führte. Deren gegenüberliegende Türe war zu einer kleinen Kapelle hin geöffnet. In der Kapelle waren sechs gelbe Kerzen auf schwarzen Leuchtern aufgesteckt und in der Mitte der Kirche in einem Rechteck aufgestellt. Zwischen den Leuchtern war auf dem Boden ein schwarzes Tuch mit einem aufgestickten silbernen Kreuz ausgebreitet.
„Gestern Nacht kam es in der Offizierszelle zu einem tragischen Unglück. Soweit ich bis jetzt gehört habe, hat einer der beiden Offiziere den anderen angegriffen und ihn dabei tödlich verletzt.“
Johann übersetzte diese Aussage nicht für Leonid, sondern hielt Don Ander an: „Wenn es einen Mord gegeben hat, dann sollte Leonid vorerst hier bleiben und für den Verstorbenen beten. Ich möchte nicht, dass er durch die Konfrontation mit einem Gewaltverbrechen erschreckt wird. Erst wenn du mir die Person gezeigt hast, für die er übersetzen soll, werde ich ihn holen gehen.“ 
Ander nickte: „Aber trotz allem wird uns seine Fähigkeit viel helfen können.“
Johann wandte sich in Deutsch an Leonid: „Ich werde zuerst mit Don Ander hineingehen und versuchen, den richtigen Gesprächspartner für dich zu finden. Wenn er noch die Uniform mit dem Namensschild trägt, werde ich ihn erkennen. Möglicherweise musst du aber auch für die anderen dolmetschen. Bleibe hier in der Kapelle, am besten kniend. Und auch wenn du nicht zu Gott beten wirst, so versuche doch, dich auf harte Arbeit vorzubereiten. Möglicherweise wird deine Selbstbeherrschung auf eine große Probe gestellt werden.“ 
Leonid ging zu einer der schmalen Holzbänke, zwängte sich hinein und kniete sich nieder. Johann, dachte er, macht sich wie immer zu viele Sorgen. Keiner der Matrosen könnte ihn kennen. Und selbst wenn sie ihn erkannten, wäre er der einzige, der diese Erkenntnis übersetzen könnte. Es bestand also eigentlich gar keine Gefahr, dass er enttarnt würde.
Ander ging nun durch den hinteren Ausgang der Kapelle in einen weiß gekachelten Gang mit großen, bunten Glasfenstern, die allerdings durch die Schatten der schweren Eisengitter durchbrochen waren, die vor ihnen montiert waren. Johann flehte jeden einzelnen der dargestellten Heiligen an – Michael, Georg, Barbara, Mauritius, Nikolaus – dass es der Kapitän war, der angegriffen worden war, und nicht Wladimir. Es wäre doch tiefster Zynismus, wenn so kurz vor der Rettung Aleksandras Bruder durch einen Gewaltakt seines verräterischen Vorgesetzten zu Tode gekommen wäre. Da war es Johann noch lieber, Wladimir als Mörder oder zumindest als in Notwehr gehandelt Habenden zu Aleksandra zurückzubringen, als sie von seinem Tod zu informieren. Johann merkte, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Er schickte ein flehentliches Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel.
Vor der nächsten eisenbeschlagenen Türe stand eine Wache. Don Ander wechselte einige Worte auf Spanisch mit dem jungen Soldaten, der dann die Türe aufschloss und die beiden in den dahinterliegenden großen Saal eintreten ließ. Noch eine Hürde mehr für die Flucht, ging es Johann durch den Kopf.
„Das ist der Festsaal der Kaserne. Das Büro des Kommandanten befindet sich gleich hier vorne.“ Ander durcheilte den Raum, ohne ihn wahrzunehmen. Johann hingegen versuchte, so viel als möglich zu sehen. Die monumentalen Fahnen Kolumbiens und aller Provinzen, die überlebensgroßen Porträts der kolumbianischen Präsidenten, die großen Leuchter aus Kanonenrädern, die mit elektrischen Lampen ausgestattet waren, und die beiden offenen Kamine an den Enden des Saals, die mit großen Löwenfiguren verziert waren. Neben einem der Kamine führten zwei monumentale Treppen in ein Obergeschoss.
Ander klopfte an einer Türe, die von innen geöffnet wurde. Ein Uniformierter salutierte und ließ Ander und seinen Gast eintreten. Hinter der Tür befand sich ein Vorzimmer. An einem Schreibtisch, auf dem neben einer Schreibmaschine auch vier verschieden färbige Telephone standen, saß eine Sekretärin, deren hellblaue Bluse mehr enthüllte, als sie verbarg. Sie nickte Ander zu, der an ihr vorbei zu einer großen Doppeltüre aus dunklem Holz ging, sie öffnete und Johann mit in den dahinterliegenden Raum zog.
Das Büro des Kommandanten war ein langgezogener Raum, an dessen Ende, gegenüber der Tür, ein massiver Schreibtisch stand. Dahinter waren eine kolumbianische Fahne und eine weitere Fahne aufgebaut, die Johann nicht zuordnen konnte. In der Mitte hing über dem Bild des Präsidenten ein verziertes Kreuz. In Vitrinen standen verschiedene Auszeichnungen, die alle mehr oder weniger militärisch auf Johann wirkten.
Der Kommandant, Pedro Umber, trug eine eindrucksvoll wirkende Uniform mit zahlreichen Orden. Vor ihm lag auf dem Schreibtisch eine Mappe mit Photos und einigen maschinengeschriebenen Zetteln, auf denen auch Stempel und Unterschriften zu sehen waren.
Als die beiden Priester eingetreten waren, stand Pedro Umber auf, salutierte und ging um den Schreibtisch herum auf beide zu. Er umarmte seinen Bruder und reichte Johann die Hand. Ander stellte die beiden einander vor und sagte: „Pedro, der Begleiter von Doktor Erath stammt aus der österreichischen Provinz Galizien und spricht Russisch. Er steht uns jederzeit zur Verfügung, um zu dolmetschen.“
Pedro bot den beiden einen Sitzplatz an einem langen, mit grünem Filz überzogenen Schreibtisch an, holte die Mappe und setzte sich zu ihnen. Ander übersetzte die Worte seines Bruders für Johann ins Italienische: „Mein Bruder bürgt für Sie. Als Priester sind Sie zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet über die Dinge, die Sie hier sehen und hören werden. Ich vertraue aber darauf, dass Sie als Militärseelsorger die nötige Sorgfalt sowieso immer wahren. Vor zehn Tagen – leider hat die Presse das auch sofort mitbekommen – hat ein sowjetischer U-Boot Kapitän für sich und seine gesamte Mannschaft um Asyl in Kolumbien angesucht. Er verwies auf politische Verfolgungen und Diskriminierung. Leider war es uns bisher noch nicht möglich, einen entsprechend qualifizierten Übersetzer nach Cartagena kommen zu lassen; das heißt, einen, der nicht für den KGB arbeitet und die Männer sofort töten würde, die uns das U-Boot überlassen könnten.“
Johann nickte verständnisvoll und erwiderte: „Die Freundschaft zwischen Kolumbien und Österreich währt schon sehr lange. Und es kann nicht anders gedeutet werden als eine Unterstützung von oben, dass ich gerade zu dieser Zeit mit einem Russisch verstehenden Priesterseminaristen aus Galizien hier bin. Natürlich wird auch er über alles Stillschweigen bewahren, was er hier sieht und hört. Ich hörte, dass es einen Todesfall gegeben hat. Darf ich fragen, wie das geschehen konnte?“
Ander blickte auf Pedro, der zustimmend nickte. Daraufhin erklärte er: „Gemäß internationalem Recht sind die Personen Asylbewerber, allerdings ist die Lage bei Soldaten etwas anders. Unsere Vorgesetzten haben beschlossen, sie bis zur Klärung der Lage hier in der Kaserne wie Kriegsgefangene unterzubringen. Das bedeutet, dass die siebenundzwanzig Matrosen in einem Schlafsaal schlafen, der Kommandant und sein Stellvertreter hingegen in einer für Offiziere angemessenen Wohnung. Wir waren davon ausgegangen, dass beide nach Kolumbien kommen wollten. Leider hat hier die fehlende Verständigung zu einem fatalen Irrtum geführt.“
Johann musste mit aller Konzentration verhindern, dass er dem Uniformierten ins Wort fiel, um ihn direkt zu fragen, wer nun gestorben sei.
„Anscheinend war der Kommandantstellvertreter nicht mit den Plänen seines Kapitäns einverstanden, gestern Nacht, hat er ihm in einem Handgemenge das Genick gebrochen.“ 
Obwohl er es im nächsten Augenblick für völlig unangemessen hielt, seufzte Johann vor Erleichterung. Wladimir hatte wohl den Kapitän als Verräter angesehen – was auch zutraf – und ihn getötet. Das machte die Sache nicht leichter, aber war zumindest eine gute Vorbedingung für den einzuleitenden Wunsch Wladimirs, zur Beichte in die Kapelle zu gehen. Johann warf alle Bedenken über Bord, dass er nun nicht nur einem Kommunisten, sondern auch einem Mörder zur Flucht verhelfen würde, sondern setzte, ohne zu zögern, hinzu: „Diese Tat ist ein schreckliches Verbrechen. Der Offizier hat einen anderen Menschen außerhalb des Gefechts getötet, aus welchen Gründen auch immer. Hätte man schon früher einen Dolmetscher hinzuziehen können, wäre wohl deutlich geworden, dass zwischen den beiden ein Auffassungsunterschied bestand. Wenn sie wollen, hole ich sofort Herrn Schachlikow, meinen Studenten, und spreche mit dem Täter. Oder,“ Johann wurde ermutigt durch das zustimmende Nicken Anders, „Vielleicht ist es sogar besser, wenn der genannte Offizier zu uns in die Kapelle gebracht wird. Er mag zwar Kommunist sein, aber im Angesicht des Todes ist sicher auch ihm klar geworden, dass die Materie allein den Menschen nicht hinreichend beschreiben kann.“
Pedro schüttelte zum Erstaunen Johanns den Kopf: „Ich schätze ihr Gottvertrauen, aber das wird nicht möglich sein. Ihr Dolmetscher soll uns helfen, ein Schriftstück zu übersetzen, dass in der Unterkunft der beiden gefunden wurde. Die übrigen Matrosen werden weiterhin hier in Gewahrsam bleiben, bis endlich der offizielle Dolmetscher aus Branquanilla kommt.“ Unter diesen Worten zog Pedro einen handgeschriebenen Zettel mit kyrillischer Schrift aus seiner Mappe und legte ihn auf den Tisch.
Johann wollte sich so kurz vor dem Ziel aber nicht abwimmeln lassen: „Natürlich wird Herr Schachlikow das Dokument sofort übersetzen. Dennoch halte ich es für höchst wichtig – und ich habe eine gewisse Erfahrung im Militärdienst in einer Grenzregion zur Sowjetunion – persönlich mit dem Täter zu sprechen. Möglicherweise kann ich an sein Gewissen appellieren. Dann erleichtert das nicht nur das Los eines schweren Sünders, es verhilft auch Ihnen zu den Informationen über das U-Boot, die Sie benötigen.“
Erneut schüttelte Pedro den Kopf. Ander versuchte, auf seinen Bruder einzureden, doch bevor er anfangen konnte, holte Pedro ein Photo von einem auf dem Rücken liegenden Mann in Uniform hervor, dessen Gesicht schmerzverzerrt war: „Wenn es möglich wäre, würde ich dieses Gespräch sehr begrüßt haben, doch der Mörder hat nach der Tat Selbstmord mit einer Zyankalikapsel begangen. Kein schöner Tod, aber bei Kriegsgefangenen, die Angst davor haben, unter der Folter Geheimnisse preiszugeben, eine häufige Todesursache. Bei allem Ärger über diese unschöne Sache – den Verlust zweier Informationsträger – muss ich ihm zumindest zugutehalten, dass er seinen Offiziersberuf ernst genommen hat, und mit Ehre gestorben ist.“

Doch diese letzten Worte hörte Johann schon nicht mehr. Die Nachricht von Wladimirs Tod raubte ihm den Atem. Ander führt das auf das schreckliche Photo zurück. Pedro zog es schnell zurück und steckte es in die Mappe. „Möchten Sie ein Glas Wasser? Bitte entschuldigen Sie, dass sich so unvorsichtig war, Ihnen das Photo ohne Vorwarnung zu zeigen.“
Johann war immer noch nicht in der Lage, zu antworten. In seinem Gehirn war ein Chaos ausgebrochen. Wie sollte er Aleksandra den Tod ihres Bruders erklären? Wäre Johann gestern Abend zu ihm gegangen, hätte er Pedro so bestürmt, dass er ihn sofort zugelassen hätte, wäre diese ganze Aktion nie geschehen. Der verräterische Kapitän und Wladimir würden noch leben. Es gab keinen Ausweg. Wladimirs Tod, der vor wenigen Stunden mit so geringem Aufwand hätte verhindert werden können, war nun eine Tatsache. Irgendwo hier ruhte seine Leiche in einem Kühlbehälter.
„Doktor Erath?“ Johann blickte auf Pedro. „Ist Ihnen nicht gut? Wir können Sie gerne auf die Krankenstation bringen. Trotzdem muss ich Sie bitten, dass Ihr Student uns diesen Text so schnell als möglich übersetzt. Wahrscheinlich enthält er Informationen über die Motive der Tat. Möglicherweise auch über den Standort des Bootes.“
Mit zitternden Händen ergriff Johann das Papier. Die Worte waren mit blauer Tinte auf das weiße Papier geschrieben. Johann hatte Wladimir nie kennen gelernt. Diese von ihm geschriebenen Buchstaben waren das erste Lebenszeichen, das er von ihm zu sehen bekam. Ein Lebenszeichen von einem Toten.
Er musste diesen Text zu Leonid bringen. Aber zuvor musste er verhindern, dass Leonid über den Tod Wladimirs die Fassung verlor. Bis zuletzt hatte Johann gehofft, Aleksandra und Leonid diese Nachricht ersparen zu können. Aber nun musste er gehen und diesen Dienst ausführen. Er erhob sich, Ander und der Kommandant standen ebenfalls auf. „Wenn du erlaubst, Don Ander, werde ich diesen Text zu Leonid in die Kapelle bringen. Er wird dort eine Übersetzung anfertigen. Wir werden auch für beide Tote dort beten.“
„Das wird zwar bei diesen Kommunisten nichts helfen, denn die schmoren sicher in der Hölle.“, antwortete Ander. Pedro fügte hinzu: „Lassen Sie sich von meiner Sekretärin Papier und einen Stift für die Übersetzung geben. Mein Bruder wird Sie begleiten und die Übersetzung dann zu mir bringen.“

Wie ferngesteuert folgte Johann Ander bis zur Tür des großen Büros, durchschritt grußlos das Vorzimmer und den Saal. Als er Leonid dort knien sah, stieg ihm der Schweiß auf die Stirn. Leonid, der das Öffnen der Türe gehört hatte, atmete erleichtert auf und erhob sich aus der knienden Position. Ander kniete sich in die hinterste Bank und begann leise, ein Gebet zu sprechen.
Johann setzte sich zittrig neben Leonid, der sich auch hinsetzte. „Leonid, es gibt eine Schwierigkeit. Ich weiß, dass du ein professioneller Dolmetscher und Geheimagent bist. Du spielst deine Rolle als Priesterseminarist und vergisst darüber jede Vergangenheit und jede Zukunft. Du musst mit Blick auf deine Pflicht für deinen Staat und mit Blick auf die Rettung deines Lebens aus diesem Raum mit absoluter Präzision diese Rolle weiterspielen!“
Leonid blickte zu Johann, dann warf er einen verstohlenen Blick auf den in sein Gebet versunkenen Ander. „Johann, du musst mir meinen Beruf nicht erklären. Ich habe schon viel kompliziertere Missionen bewältigt. Es mag für einen Priester schwierig sein, mit Blick auf sein Amt seine Gefühle zu zähmen, aber ich habe damit überhaupt kein Problem. Wir werden dieses Spiel, so schwierig Lügen für dich auch sein mag, so weiterspielen wie bisher. Und du kannst dir sicher sein, dass ich nicht nur aufgrund all meiner Treue, die der Sowjetunion gilt, sondern auch für Wladimir alles tun werde, was nötig ist. Und keine Sorge, ich werde nicht ungeduldig werden oder mich durch falsches Benehmen enttarnen. Selbst wenn ich ihm gegenüberstehe, wird niemand auch nur erahnen können, dass wir einander kennen. Und Wladimir ist mein Lehrer in diesen Dingen gewesen. Das wirst du sehen, sobald wir bei ihm sind.“
Johann zog mit wachsender Verzweiflung das Papier aus seiner Tasche, legte es vor Leonid und gab ihm den Stift, den er von Pedros Sekretärin erhalten hatte. Leonid nahm den Stift verwirrt: „Soll ich ihm eine Nachricht schreiben? Können wir ihn nicht persönlich sehen? Ich dachte, sie bräuchten so dringend einen Übersetzer.“
Johann griff erneut in seine Tasche und holte das gefaltete, auf beiden Seiten beschriebene Blatt heraus. Leonid wollte danach greifen, doch Johann hielt es zurück. „Leonid, schau mir jetzt in die Augen. Du wirst keine Miene verziehen, wenn ich dir jetzt etwas sage, dass dich vor Schmerz schreien lassen wird. Versprich mir das und wende deinen Blick nicht von meinen Augen. Ein falsches Wort von dir, und Ander dort hinten wird unser bester Freund gewesen sein!“ 
Nun hielt auch Leonid den Atem an. Die Stille wurde nur durch das Murmeln Anders sanft durchbrochen. In der Bank ergriff Johann hart Leonids Hand und drückte sie fest, ohne dass Ander etwas davon sehen konnte. 
„Das ist ein Text, den Wladimir geschrieben hat. Du sollst ihn übersetzen und die Übersetzung auf das Blatt Papier vor dir schreiben. Du wirst jetzt nichts anderes tun, als diese Übersetzung anzufertigen. Ich werde dann den Text für Don Ander ins Italienische übersetzen; und wenn du mir etwas sagst, von dem du meinst, dass die Kolumbianer es aus militärischen Gründen nicht wissen dürfen, dann werde ich das bei der Übersetzung auslassen. Achte nicht auf den Inhalt, sondern nur auf die korrekte Wiedergabe des Textes. Dafür bist du ausgebildet. Was immer in diesem Text über Wladimir steht, über sein Handeln oder seine Motive, darf dich jetzt nicht berühren. Du wirst genug Zeit haben, darüber nachzudenken, nachdem wir diesen Komplex verlassen haben.“
Leonid entspannte sich: „Jetzt verstehe ich, wovor du mich warnen willst. Und du brauchst dir nicht die geringsten Sorgen zu machen. Auch wenn du vielleicht denkst, Wladimir hätte unter Androhung von Folter oder für das Versprechen von Asyl Landesverrat begangen, dann liegst du völlig falsch. Auf diesem Zettel wird, selbst wenn er zum Schein auf die Drohungen oder Versprechungen der Kolumbianer eingegangen ist, nichts stehen, was der militärischen Geheimhaltung unterliegt. Ich kenne ihn und weiß, dass er die Geheimnisse mit seinem Leben schützen wird. Ich weiß aber auch um seine Ausbildung: Er wird den Kolumbianern zweitklassige Informationen geben, um sie zu täuschen und eine bessere Verhandlungsposition zu bekommen. Das darfst du nicht falsch verstehen. Wladimir ist sicher kein Verräter, und ich werde deshalb auch nicht die Fassung verlieren.“
Johann gab Leonid den Zettel und ließ nicht davon ab, ihn durchdringend anzusehen: „Wladimir hat die Geheimnisse der Sowjetunion und dieses Bootes mit seinem Leben verteidigt! Er hat verhindert, dass sein Vorgesetzter auch nur irgend etwas von diesen Geheimnissen an die Kolumbianer weitergeben konnte. Dieser Text ist sein Testament!“
Johann fürchtete sich, dass Leonid die Fassung verlieren würde. Für einen Augenblick ließ wirklich die Spannung in seiner von Johann fest umklammerten Hand nach. Doch nur einige Sekunden später straffte sich Leonids Körper. Er nahm den Zettel und faltete ihn wortlos auf. Johann zweifelte, ob er die Botschaft klar genug vermittelt hatte. 
Leonid begann zu lesen und gleichzeitig mit dem scharf gespitzten Bleistift in gestochen scharfer Schrift auf das vor ihm liegende Papier zu schreiben: „Kapitän 1. Ordnung Wladimir Ossipowitsch Piatnizki, stellvertretender Kommandant. In Erfüllung meiner Pflicht muss ich meinen vorgesetzten Kapitän, Konteradmiral Leonid Ossipenko, wegen Hochverrats absetzen und zum Schutz der militärischen Einrichtungen der Sowjetunion liquidieren. Sollte die kolumbianische Marine den Standort des U-Bootes ausfindig machen, wird dieses Wissen nichts nützen, da sämtliche technischen Informationen zerstört und alle Geräte unbrauchbar gemacht wurden. Im Wissen darum, dass ich alle wesentlichen Informationen in Erinnerung habe und sie möglicherweise preisgebe, werde ich für den Sozialismus sterben. Ich weiß, dass der Sieg unser sein wird. Und die sowjetische Marine wird durch ihre Unterstützung der Revolutionäre auf der ganzen Welt einen wesentlichen Beitrag zur Solidarität der Arbeiterklasse und ihrer Befreiung leisten.“
Johann blickte auf Leonid, der völlig ruhig die Worte auf den vor ihm liegenden Zettel schrieb. Er wandte das Blatt und begann die Rückseite zu übersetzen: „Ich danke den Genossen Vorgesetzten für die Möglichkeiten, die mir in der Entwicklung und militärischen Führung geboten wurden und hoffe, meinen Dienst im Sinne des werktätigen Volkes versehen zuhaben. Möge auch morgen jede Welle des Meeres zum Zeichen meiner Liebe werden.“
Leonid schluckte kurz, als er den letzten Satz abschloss, dann gab er Johann das Papier, die Übersetzung und den Stift zurück: „Du kannst alles für die Kolumbianer übersetzen, es besteht keine Gefahr. Aber das war mir von Anfang an klar. Wladimir macht nie Fehler.“
Nach diesen Worten kniete Leonid sich hin und senkte seinen Kopf auf die gefalteten Hände, wie er es bei Don Ander gesehen hatte, der nun zu den beiden anderen nach vorne schaute.
Johanns Hände waren eiskalt. Was machte Leonid da? Betete er? Oder versuchte er so perfekt, die unauffällige Haltung des Seminaristen weiterzuspielen? Konnte ein Mensch dermaßen kontrolliert mit seinen Emotionen umgehen? In Sansibar hatte er ihn so anders, so zerfahren erlebt, dass dieser fast reglose Körper neben ihm einer anderen Person zu gehören schien.
Johann wollte diese Szene so schnell wie möglich beenden und übertrug Leonids Übersetzung ins Italienische. Schließlich stand er auf und ging zu Don Ander. Er gab ihm die beiden Zettel und den Stift. Mit Blick auf den immer noch knienden Leonid sagte er: „Der Mord und Selbstmord haben ihn sehr betroffen gemacht. Seine Gedanken sind auf die Verstorbenen gerichtet.“
Ander überflog den Text und nickte: „Ich werde euch in die Kirche begleiten und dann diesen Text meinem Bruder übergeben. Ich bin euch zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Wenn ich noch irgendetwas für euch tun kann, wendet euch jederzeit an mich.“
Er steckte die Gegenstände in seine Tasche und gab Johann die Hand. Johann ging wie benommen zu Leonid zurück, kniete sich neben ihn und flüsterte leise in sein Ohr: „Wir müssen jetzt gehen.“
Leonid hob den Kopf, auf dem die Abdrücke seiner Finger zu sehen waren, und sah Johann an. Die Worte schienen unendlich langsam zu brauchen, bis sie ihn erreichten. Doch er stand schließlich auf und folgte den beiden Priestern in den Gang zur Kirche.
Am Portal verabschiedete Ander die beiden. Als sie ein Stück über den Kirchenplatz voller lachender und sich unterhaltender Menschen gegangen waren, zog Johann Leonid in eine stillere Seitengasse. „Was ist mit dir los? Kann ich irgend etwas für dich tun?“
Leonid blickte ihn gelassen an: „Nein.“ Als er Johanns Blick auffing, lächelte er und sprach weiter, Johann zum Gehen mitziehend: „Du hast mir einmal von einer Fabel eurer Bibel erzählt, bei der Jesus einen Seesturm gestillt hat. Du hast mir damals erklärt, dass es Dinge gibt, die ein Mensch beim besten Willen und unter Aufbietung all seiner Kräfte nicht schaffen kann. Ich kann keinen Seesturm stillen, du kannst keine Toten aufwecken. Also kannst du nichts für mich tun. Mein Trost war die Liebeserklärung, die Wladimir als seinen letzten Text hinterlassen hat. Es war immer klar, dass einer von uns vor dem anderen sterben würde. Und es war immer schon klar, dass der andere weiterleben müsste. Das Überraschende ist nur, dass es so geschah; und jetzt.“
Bis zum Hotel gingen beide schweigend nebeneinander. Bevor sie in Sichtweite des Eingangs kamen, zogen Leonid und Johann ihre Talare aus, falteten sie zu kleinen Bündeln und trugen sie unter dem Arm. 

Aleksandra wartete bereits im Zimmer. Thomas saß auf dem zweiten Sessel und las in einem Buch. Allerdings blätterte er ständig vor und zurück, weil ihm kein klarer Gedanke gelingen wollte. Wie würde er auf das erste Treffen mit Wladimir reagieren? War er sich inzwischen wieder sicher genug, dass sein Platz nach dem Einsatz in Moskau wieder zuhause an der Seite seiner Verlobten und zukünftigen Ehefrau befand, wie er sollte?
Aleksandra war völlig ruhig. Im Konsulat wurde ihr zwar zur Lage ihres Bruders nur gesagt, dass mit allen verfügbaren Kräften daran gearbeitet würde und sie keine eigenen Schritte unternehmen dürfe. Andererseits hatte man ihr Diplomatenpässe für sie selbst und Leonid ausgestellt. Für Thomas und Johann waren österreichische Pässe bei der dortigen Botschaft angefordert worden, die in Bogota abzuholen sein würden, sobald sie dort ankämen. Der Ausreise stand nichts mehr im Weg.
Und trotzdem erfüllte all diese perfekte Organisation Aleksandra mit einer gewissen Wehmut: Moskau hatte entschieden, dass sie mit Leonid und Thomas in die Sowjetunion zurückkehren würde, Johann hingegen direkt nach Wien fliegen sollte. Sein Aufenthalt in Moskau war fürs Erste nicht mehr erwünscht, auch wenn das Telegramm die hervorragenden Kontakte zweimal gelobt hatte, die Aleksandra aufgebaut hatte. Ihre kleine Gruppe würde sich schnell zerschlagen, und ob es noch Möglichkeit zum Kontakt danach gab, war ihr unklar.

Johann und Leonid betraten das Zimmer und legten ihre Gewänder auf das große Bett. Leonid ging direkt zu Aleksandra und sagte: „Du brauchst dir um Wladimir keine Sorgen mehr zu machen. Er ist als Held und Verteidiger des Sozialismus gestorben. Und er hat den Verrat durch seinen Kapitän vereitelt.“
Aleksandra stand auf, strich reflexartig ihren dunkelblauen Rock glatt und schaute Richtung Fenster. „Etwas anderes hätte ich auch nie von Genossen Piatnizki erwartet.“
Johann flüsterte Thomas seine Zusammenfassung der Ereignisse in der Kaserne ins Ohr.
Aleksandra ging die drei Schritte bis zum Fenster und hielt sich mit den Händen am Fensterbrett fest; nicht angestrengt, sondern in einer seltsamen Gelöstheit. Johann trat, ohne zu überlegen, an sie heran und berührte ihre Schultern, um sie zu stützen.
Doch sie wandte sich abrupt um. „Herr Doktor Erath, ich habe gute Nachrichten für Sie.“ sagte sie in Englisch. Sie ließ den verdutzten Johann am Fenster stehen, ging zum Schreibtisch und holte aus ihrer Tasche das Telegramm mit der Erwähnung des österreichischen Passes und der Heimreise nach Wien. Als sie am Bett vorbeikam, nahm sie auch Johanns Talar, entfaltete ihn und hielt ihn Johann gemeinsam mit dem Telegramm hin: „Hier ist ihr Ausweg in die Heimat. Moskau hat bei der österreichischen Botschaft in Bogota einen Pass hinterlegen lassen, Sie werden nach Österreich zurückkehren, Thomas kommt mit uns nach Moskau zurück. Und hier ist das Gewand, das Ihnen als Priester zusteht. Ich habe Nachricht aus Moskau bekommen, dass in Absprache mit ihrer Regierung einer sofortigen Heimreise nach Österreich nichts mehr im Weg steht. Ihr Aufenthalt in der Sowjetunion hat einen wertvollen Beitrag zur Verständigung zwischen den Völkern geleistet. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben werden, können dem Frieden und der internationalen Gerechtigkeit zur Durchsetzung verhelfen.“
Johann nahm stumm Telegramm und Talar aus Aleksandras Händen. „Ein Luftschiff von Bogota über Madrid wird Sie nach Wien zurückbringen.“

Aleksandra nahm die Welt um sich herum nur mehr als entfernte Schatten wahr. Ihr Bruder war tot. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. War es am 1. Mai gewesen? Oder zu seinem Geburtstag im Februar? Er hatte sie angerufen. Es war immer er, der angerufen hatte. Die Vereinbarung war deshalb so getroffen worden, weil er die meiste Zeit auf See und damit unerreichbar war. Aleksandra und Wladimir waren getrennt aufgewachsen, beide schon früh als Waisen. Die Erziehung durch den Staat und die massive Unterstützung durch General Schelepin hatten Wladimir, Aleksandra und ihrem älteren Bruder Igor interessante Karrieren eröffnet. Und jetzt war Wladimir tot. Die genauen Umstände waren Aleksandra eigentlich egal. Es war tröstlich, dass ihr Bruder bei der Erfüllung seiner Pflicht gestorben war. Der Name Piatnizki, der unter Stalin so in Ungnade gefallen war, wurde durch die drei Kinder der Verurteilten zu neuem Glanz geführt. Als Nächstes müsste Aleksandra Igor informieren. Der älteste Bruder war Arzt geworden und arbeitete in einem Spital in Omsk.
‚Ich sollte mich auch um Leonid kümmern.‘ dachte Aleksandra und schaute zu dem mit versteinerter Miene weiterhin neben der Türe stehenden Leonid. „Genosse Schachlikow, wir werden sobald als möglich in die Heimat zurückkehren. Ich werde mich um die Luftschifftickets kümmern. Generalwachtmeister Winter wird uns begleiten und an seinen Arbeitsplatz in der österreichischen Botschaft zurückkehren.“ 
Leonid reagierte nicht. 
„Jeder von uns hat nun ein eigenes Zimmer in diesem Hotel, weil wir unsere Tarnung nicht mehr aufrechterhalten müssen. Hier ist ihr Pass. Sie können sich gerne zurückziehen und auch morgen ausschlafen. Ich werde Sie rufen lassen, sobald unser Schiff nach Bogota gebucht ist.“
Sie nahm aus ihrer Tasche einen sowjetischen Pass und reichte ihn Leonid, der ihn entgegennahm: „Danke, Genossin Generalmajor. Ich werde mich zurückziehen.“
Plötzlich sprang Thomas von seinem Sessel auf und fasste Leonid, der sich zum Gehen wandte, an der Hand: „Ich habe zwar nicht verstanden, was ihr beiden jetzt gesprochen habt, aber ich lasse dich jetzt nicht allein gehen. Niemand sollte heute alleine sein. Aleksandra hat ihren Bruder und du deinen Geliebten verloren. Ihr könnt nicht einfach so tun, als würde jetzt alles weitergehen wie bisher.“ 
Mit einer völlig unvorhersehbaren Reaktion stieß Leonid Thomas zurück, sodass der rücklings auf den Boden fiel: „Es ist nicht angebracht, dass ein österreichischer Unteroffizier einen Sowjetbürger nötigt.“ 
Johann beobachtete das Geschehen. Leonid zögerte einen Augenblick, dann wandte er sich zur Tür. Als Thomas aufstand, drehte Leonid sich plötzlich um, und begann mit beiden Fäusten auf Thomas einzuschlagen. Der wehrte sich aufgrund der Überraschung nicht und ging sofort zu Boden. Leonid hörte nicht auf, auf den Liegenden einzuprügeln, bis Aleksandra ihn an den Haaren hochriss und ihm eine Ohrfeige versetzte. 
Thomas Nase blutete. Johann kam zu ihm, half ihm auf und reichte ihm sein weißes Taschentuch. „Danke; wenigstens weißt du jetzt, dass du noch ein Mensch bist!“ 
Leonids Füße trugen ihn nicht länger. Er sackte zusammen und fiel heulend auf den Boden. Aleksandra kniete sich neben ihn, nahm seinen Kopf auf ihren Schoß und streichelte über sein Haar. Unter Schluchzen stammelte Leonid: „Der letzte Satz auf dem Dokument, das er hinterließ, galt uns: ‚Möge auch morgen jede Welle des Meeres zum Zeichen meiner Liebe werden.‘ war jedes Mal sein Abschiedsgruß, wenn wir uns trennten, und er zu einer neuen Mission aufbrach.“
Wie wirr sprang Leonid plötzlich auf, lachte schallend und sagte: „Genossin, Sie haben mir ja für heute frei gegeben. Dann werde ich mich jetzt entschuldigen und schauen, ob eine der Hotelangestellten noch etwas Zeit für mich hat.“
Johann, der nicht verstand, was Leonid sagte, war über das Lachen verwirrt. Er half Aleksandra beim Aufstehen und wandte sich an Leonid: „Was geht hier vor? Du musst mir übersetzen, was du mit Aleksandra redest!“
Leonid packte Aleksandra, zog sie an sich und küsste sie. Und sie ließ ihn gewähren. Der Kuss zog sich in die Länge. Aleksandra vergrub ihre Hände in Leonids Haaren, er drückte sie heftig an sich. Thomas und Johann betrachteten verwirrt das Schauspiel.
Johann wandte sich zum Fenster. Er kochte innerlich vor Wut. Wie konnte er nur einen Augenblick lang in Aleksandra mehr gesehen haben als die sowjetische Beamtin, die ihm zur Überwachung zugeteilt war? Sie jetzt in leidenschaftlicher Umarmung ausgerechnet mit Leonid zu sehen, raubte ihm beinahe den Verstand. Dieser sympathische junge Mann, der mit jeder Frau auf der Welt schlafen konnte, fiel nun im Rausch der Trauer über Aleksandra her, die seine Forschheit auch noch zu begrüßen schien. 
Aleksandra und Leonid vergaßen die Welt um sie herum. Johann ging zur Türe, öffnete sie und trat hinaus auf den Gang. Thomas folgte ihm und schloss die Türe hinter sich. Er war sicherer denn je, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Diese Türe hinter sich zu schließen bedeutete auch, alles was mit Aleksandra und Leonid zusammenhing, hinter sich zu lassen. Er würde nicht mehr anders über Leonid und Aleksandra denken als über jeden anderen sowjetischen Beamten, mit dem er aufgrund seines Berufes zusammenarbeitete. Und noch in dem Moment, wo er sich das vornahm, wusste er, dass er die Bilder, die Erinnerungen an die gemeinsamen Zeiten nicht vergessen konnte. Aber es würde mit jedem Tag leichter werden, an dem er sie nicht mehr sah. Und es war sehr wahrscheinlich, dass er nach dem gemeinsamen Rückflug keinen von beiden wiedersehen würde.
Johann fühlte sich, als müsse er ersticken. Es durchlief ihn heiß und kalt, und er hoffte nur, dass Thomas nichts von seiner Verzweiflung, seinem Zorn und seiner Qual spüren konnte. Mit aller Kraft bemühte er sich, langsam und besonnen zu sprechen: „Es ist sicher besser, wenn sie ihre Trauer in Lust begraben, als wenn sie hinter der versteinerten Fassade der politischen Phrasen innerlich zerbrechen. Auch wenn diese Form der Trauer uns vielleicht fremd vorkommt.“
Thomas merkte, wie mühsam Johann jedes Wort über die Lippen kam. „Du hättest nicht mehr tun können. Du hast für sie gelogen und deine eigene Zunft betrogen. Du hättest auch an einem Gefängnisausbruch und einer haarsträubenden Flucht in einem U-Boot teilgenommen, wenn es ihr geholfen hätte. Aleksandra steht jetzt unter Schock. Sie schätzt dich und das, was du tust, sehr. Nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern, weil sie dich als Menschen schätzen gelernt hat, unabhängig von ihrem Unverständnis für deinen Glauben. Aber es war von Anfang klar - und ich hoffe, dass du das nie vergessen hast- , dass eure Zusammenarbeit nur auf Zeit vorgesehen war. Jeder Soldat weiß, dass er im Einsatz mit Kameraden zusammen arbeiten muss, denen er sein Leben anvertraut. Und trotzdem enden diese Einsätze. Und dann geht jeder wieder seinen eigenen Weg; mit der guten Erinnerung an die gemeinsame Zeit, aber auch mit dem Blick nach vorne auf neue Aufgaben.“
Johann standen Tränen in den Augen, aber seine Stimme gehorchte noch seinem Willen: „Es ist selbstverständlich, dass solche Einsätze zeitlich begrenzt sind. Ich weiß das. Und trotzdem wünschte ich, dass die gemeinsame Zeit noch nicht vorbei wäre. Ja, ich würde am liebsten den Heimweg über den Atlantik mit einem Schiff machen; oder über den Pazifik zurückfahren.“
„Oder in Russland bleiben? In Aleksandras Nähe?“, fragte Thomas gerade heraus. Mit einem Schlag war Johann wieder völlig Herr seiner Sinne: „Es hat sehr gutgetan, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie ist fleißig und kompetent. Zugleich sehr direkt und wirklich daran interessiert, auch gegnerische Positionen zu verstehen. Ich hätte mir keine bessere Begleiterin in den für mich unbekannten Raum des Kommunismus wünschen können. Und es gibt noch sehr vieles, das ich nicht verstanden habe. Ja, direkt gefragt, würde ich gerne in Moskau bleiben und meine Studien fortsetzen.“
Thomas ergriff Johanns Unterarm: „Und es ist für dich kein Problem, dass Aleksandra da drinnen gerade mit Leonid schläft?“
Johann log: „Nein, denn wie sie ihr Privatleben gestaltet, ist völlig allein ihre Sache. Ich schätze sie aufgrund ihrer offenen Art und ihres Wissens. Alles, was darüber hinausginge, wäre unprofessionell. Es würde ihr und ihrer Funktion für mich nicht gerecht.“ Er zögerte etwas: „Und für mich wäre es verboten.“
Johann schüttelte Thomas Hand ab und ging in entgegengesetzter Richtung zur Stiege, um hinunter in die Hotelbar zu gehen. Er hatte beschlossen, etwas Alkohol zu trinken, um diese so verwirrenden Gedanken aus seinem Kopf zu spülen.

Als Thomas in seinem Zimmer angekommen war, setzte er sich an den kleinen Schreibtisch und suchte nach Briefpapier. In einem abgegriffenen Umschlag fand er Bögen, die mit dem Logo des Hotels bedruckt waren. Aus seiner Brusttasche holte er eine Füllfeder und begann, einen Brief an seine Verlobte zu schreiben.

Please Login in order to comment!